Ich war noch nie ein Mann der seine Blicke senkte. Meine Eltern predigten mir zwar jeden Tag, dass ich mich islamisch verhalten soll, aber irgendwie war mir das nicht so wichtig. Ehrlich gesagt hörte ich ihnen nie wirklich zu. In Gedanken war ich schon von zuhause ausgezogen und im Herzen auch. Meine Ausbildung hatte damals erst angefangen und somit konnte ich mir noch keine eigene Wohnung leisten. Was für mich bedeutete, dass ich noch ein paar Jährchen bei meinen Eltern verbringen musste. Ich meine, ich liebte meine Eltern, ihr müsst ja jetzt denken, dass ich froh gewesen wäre, wenn ich sie los bin. Nein, ich war einfach nur ein Junge der seine Freiheit wollte. Ein Junge, der auf dem Weg war ein Mann zu werden. Und jetzt bin ich einfach nur ein Mann, ein geprägter Mann, der euch seine Geschichte erzählen will.
Es fing alles an einem für mich ganz normalen Tag an. Ich stand Morgens um sechs Uhr auf um meinen Arbeitstag in der Werkstatt anzutreten. Damals war ich im ersten Lehrjahr der Ausbildung zum KFZ-Mechatroniker. Meine Mutter machte uns wie jeden Morgen das Frühstück, mein Vater saß wie jeden Morgen mit seiner Tasse Kaffee und seiner Zeitung am Tisch. Wie so oft wünschte er mir nicht einmal einen guten Morgen und blickte mich nur enttäuscht und kritisch über seine Zeitung hinweg an. Ich wusste was er von mir hielt, ich wusste wie maßlos enttäuscht er von mir war. Auch wusste ich wie gedemütigt er war, dass ich mich nicht so entwickelte und nicht so war, wie er es sich immer gewünscht hatte. Mein Vater hatte mich früh in die Islamschule gesteckt und wollte immer, dass ich ein guter Muslim werde. Wenn ich als Kind im Quran gelesen habe hatte er fast vor Rührung geweint und war so unendlich stolz auf mich.
Als ich aber in die Pubertät kam und mit den anderen Türken aus meiner Schule rumhängte, änderte sich alles. Für mich und auch für mein Vater. Es schien ihn innerlich kaputt zu machen das ich mich für Musik statt für den Quran interessierte. Es schien ihn zu zerfressen, dass ich meine Zeit lieber draußen auf den Straßen verbrachte als mit ihm in die Moschee zu gehen. Manchmal blieb ich tagelang bei meinen Freunden und sagte zuhause nicht bescheid. Es war einfach so üblich unter uns Kumpels. Wir hangen zusammen ab und wollten frei sein. Es war total uncool von den Eltern abhängig zu sein. Wir machten lieber unser eigenes Ding.
Und nun sah ich ihm jeden Tag an, wie maßlos enttäuscht er war. Auch an diesem Tag. Nach dem Frünhstück drückte ich meiner Mutter einen Kuss auf die Wange und verabschiedete mich. Mein Vater nickte mir nur zu, seinen Blick weiterhin auf seine Zeitung gerichtet. Meine Mutter sagte ihm immer er solle nicht so streng mit mir sein, ich würde schon noch den richtigen Weg finden. Mein Vater sah das nicht so. Er sah mich als verloren an. Ich war sein verlorener Sohn. So hieß ich übrigens auch vor seinen Freunden. Der Verlorene.
Als ich an dem Tag in die Werkstatt kam, ahnte ich noch nicht was mich erwartete. Ich fing ganz normal meinen Arbeitstag an und reparierte einen Motor als die Werkstatttür aufging. Eine Frau kam rein. Eine Frau wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Ich wusste nicht was mit mir passierte aber ich konnte nichts mehr sagen. Alles hatte mich auf einmal kalt gelassen und ich hatte nur noch Augen für diese wunderschöne Frau. Sie kam direkt auf mich zu und fragte mich, ob ich mir mal ihr Auto anschauen könne. Es machte wohl komische Geräusche. Ohne zu Antworten ging ich zu ihrem Auto und untersuchte es auf Herz und Nieren. Mit einem Auge bei ihrem Auto und mit dem anderen Auge bei ihr. Ich schätzte sie so auf Anfang 20. Sie war in meinem Alter. Ich fragte sie nach ihrem Namen und als sie ihn sagte, klang er wie Vogelgesang in meinen Ohren. „Julia“. Das war so ziemlich der schönste Name den ich je gehört hatte. Zumindestens kam es mir zu der Zeit wie der schönste Name vor.
Ich stellte mich ebenfalls vor und sagte: „Also Julia, mein Name ist Ahmed, ich hab jetzt die Ursache für die Geräusche an deinem Auto gefunden. Es dauert aber bestimmt noch bis morgen, wenn du willst fahr ich dich nach Hause und rufe dich dann morgen an, wenn das Auto wieder Fit ist.“ Sie willigte ein. Ich muss sagen, an dem Tag habe ich ein bisschen geflunkert. Der Grund für das Geräusch an ihrem Auto war ein kleiner Stein, der in ihrem Reifenprofil festhing. Wenn ich ihr das aber gesagt hätte, wäre sie wieder weg gewesen. So lügte ich um bei ihr sein zu können. Ich kannte sie nicht aber irgendetwas an ihr zog mich an.
Auf der Fahrt versuchte ich ein Gespräch mit ihr anzufangen. Mit Erfolg. Sie erzählte mir direkt offen von sich und ihrem Leben. Sie sagte mir, dass sie gerade in einer Ausbildung zur Bürokauffrau ist und das sie gerne Tennis spielt. Die ganze Fahrt von etwa 20 Minuten quer durch die Stadt erzählte sie und erzählte sie. Sie war erstaunlich locker und zutraulich, obwohl sie mich nicht kannte. Mit ihrer Art bezauberte sie mich. Ich hatte noch nie in meinem Leben diese Gefühle in mir gespührt. Sie war eigentlich eine Fremde, aber so wie wir uns unterhielten kam es mir vor, als ob wir uns schon eine Ewigkeit und noch länger kannten. Es war einfach eine schöne und unvergessliche Fahrt. Bis heute hab ich diese Fahrt nicht vergessen.
Wir tauschten unsere Nummern und blieben in Kontakt. Jeden Tag schrieben wir uns zig Sms und wir telefonierten jeden Abend. Sie schien also genau so verzaubert von mir zu sein, wie ich es von ihr war. Wir trafen uns ab und zu in einem Cafe. Natürlich immer so, dass meine Eltern es nicht mitbekamen. Es war ja schon zu viel für sie, dass ich lieber mit meinen Freunden abhing als zum Islamunterricht zu gehen. Dann auch noch eine Freundin? Ich wollte ja nicht, dass mein Vater einen Herzinfarkt bekommt. Meine Eltern hatten schon mit 13 zu mir gesagt, dass ich Aischa, meine entfernte Cousine, heiraten soll. Ich kannte sie von Familientreffen.
Sie war ein wirklich nettes Mädchen, schüchtern und wohl erzogen. Sie, im Gegensatz zu mir, ging zur Islamschule und verhielt sich keusch und islamisch. Sie trug auch direkt ab der Pupertät ein Kopftuch. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie mir einmal in die Augen geschaut hat seitdem sie eine „Frau“ ist. Nein, sie hat immer ihren Blick gesenkt. Meine Eltern fanden sie ganz toll und stellten sich schon unsere Zukunft vor als wir noch Kinder waren. Sie dachten immer es sei schon beschlossene Sache das wir mal heiraten. Aber was sollte ich mit ihr? Ich war ein Junge der es mochte Musik zu hören, ein Junge der in die Disco ging. Das passte doch vorne und hinten nicht zusammen mit Aischa und mir. Aber das konnte ich ja meinen Eltern so nicht sagen.
Mit Julia und mir wurde es immer ernster. Wir trafen uns oft bei ihr und wir wurden immer enger miteinander. Ich begann sie zu lieben. Wirklich aus tiefstem Herzen zu lieben. Jeden Tag ging ich nach der Arbeit zu ihr nach Hause. Im Gegensatz zur mir hatte sie schon ihre eigene Wohnung. Jeden Tag war ich bei ihr. Ich konnte mir gar kein Leben mehr ohne sie vorstellen. Wir gingen zusammen ins Kino, gingen zusammen in die Disco und hatten sogar einen gemeinsamen Freundeskreis aufgebaut.
Es war einfach alles zu schön um wahr zu sein. Sogar mit ihren Eltern kam ich gut zurecht, sie hatten kein Problem damit, dass ich Türke bin. Nur ihr Vater fragte mich am Anfang, ob ich ein Islamist sei. Da hab ich ihm erklärt, dass ich ein Muslim bin aber nicht streng nach dem Islam lebe, was ihn auch sehr beruhigt hatte. Mit Julia hatte ich nie über Religion gesprochen, leider. Solche Dinge interessierten uns damals nicht. Wir waren einfach jeden Tag zusammen ohne uns Gedanken über das Leben zu machen. Damals dachten wir noch alles sei in bester Ordnung und unsere Beziehung wäre stark. Ja, wir dachten unsere Beziehung könne alles verkraften.
Es kam eine Zeit in der ich mir viele Sorgen um Julia machte. Sie musste sich jeden Tag übergeben und man konnte fast nichts mehr mit ihr anfangen. Nicht mal rausgehen konnten wir. Sie war einfach immer kaputt und ihr war nur noch schlecht. Ich sagte ihr, sie solle mal einen Termin beim Arzt machen um sich untersuchen zu lassen. Ich hatte wirklich Angst um sie.
Sie ging zum Arzt während ich bei der Arbeit war. Abends wollte sie mir dann bescheid geben, was der Arzt gesagt hatte. Als sie dann aber plötzlich in der Werkstatt vor mir stand, war ich erstaunt und erschrocken. Ihr ganzes Gesicht war rot und ihre Schminke war zerlaufen. Ich nahm sie in den Arm und fragte sie, was los sei. Ich stellte mich schon auf eine schlimme Nachricht ein…
Sie lag mir in den Armen und sagte mir leise: „Ahmed, ich, wir, ähm… Ich weiss nicht, wie ich es dir sagen soll. Wir bekommen ein Baby. Ich bin schwanger!“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Der Schock saß tief, denn damit hatte ich nicht gerechnet. Ich habe mich gefreut aber irgendetwas in mir hatte auch Bedenken. Irgendeine Seite, die ich bis dato noch nicht kannte, hatte starke Bedenken. Ich ließ mir von meinem Chef für diesen Abend frei geben und wir fuhren nach Hause. Julia war überglücklich. Wir waren nun schon knapp ein Jahr zusammen und sie freute sich auf ein Kind mit mir. Ich freute mich natürlich auch. Aber wie gesagt, irgendetwas in mir hatte Bedenken. Ja, ein Teil von mir hatte Angst, und zwar eine Scheiss-Angst.
Ich musste es irgendwie meinen Eltern sagen. Ich wusste nur noch nicht wie. Sie hatten wahrscheinlich schon geahnt, dass ich eine Freundin hatte. Ich meine, wo sollte ich mich auch sonst nächtelang herumtreiben. Meine Mutter sah es mir sowieso direkt an der Nasenspitze an, das merkte ich. Nur sagte sie nichts. Vielleicht sagte sie nichts, um meinen Vater zu schonen. Ich glaube er dachte, dass ich nur mit meinen Freunden rumhänge, wie immer. Aber das ich verliebt war merkte er wahrscheinlich nicht. Mütter merken sowas eher…
Ich rief meine Eltern an um sie zu fragen, ob ich einen Freund mit nach Hause bringen könnte und natürlich willigten sie ein. Ich musste meine Eltern also schon am Telefon belügen. Denn hätte ich ihnen gesagt, dass ich eine Frau mit nach Hause bringe, meine Freundin, die gerade von mir Schwanger ist, ohne das ich mit ihr verheiratet bin, ich glaube, dann hätten sie beide einen Herzanfall bekommen. Was ich jetzt, nach vielen Jahren, auch wirklich nachvollziehen kann.
Wir gingen abends zu meinen Eltern. Mein Herz pochte und ich hatte das Gefühl, dass ich nicht schlucken kann. Mein Hals war trocken und ich hatte nicht nur einen Kloß im Hals. Meine Freundin war eigentlich relativ gelassen, das war sie immer. Locker, flockig und meist gelassen. Es war nicht ihre Art nervös zu sein. Sie war einfach Selbstbewusst kann man sagen, sehr selbstsicher. Was ich damals so sehr an ihr mochte und mir später zum Verhängnis wurde.
Wie es weitergeht erfahrt ihr inshaAllah im zweiten Teil 🙂